Der Gutachtenstil als juristische Methode

Der Gutachtenstil – die wohl wichtigste Methode des Jurastudiums – unterscheidet sich grundlegend von anderen wissenschaftlichen Methoden.  Er ist Grundlage nahezu aller juristischen Seminararbeiten und Klausuren und sollte daher möglichst schnell verinnerlicht werden. Obwohl das schematische System des Stils das Arbeiten mit Rechtsfällen erleichtern soll, haben viele Studierende zunächst Schwierigkeiten mit der Anwendung.

Aufbau des Gutachtenstils

Der Aufbau des Stils ist immer der gleiche und besteht aus vier Punkten, die stets in derselben Reihenfolge stehen:

  • Obersatz
  • Definition
  • Subsumtion
  • Konklusion

Besteht ein Fall aus mehreren Tatbestandsmerkmalen, so wiederholt sich dieser Ablauf für jedes einzelne Merkmal von neuem. Eine hilfreiche Formulierung, um alle wichtigen Punkte zu berücksichtigen, ist die W-Frage:

Wer will was von wem woraus?

Diese stellt einen hervorragenden Leitfaden für das Gutachten dar.

Obersatz

Der Obersatz wirft die Frage auf, ob der jeweilige Punkt erfüllt ist. Er ist hypothetisch formuliert (z. B. ” K könnte von V die Übereignung und Übergabe der Kaufsache gemäß §433 bs.A 1 S. 1 verlangen.”).

Beliebte Formulierungen für den Gutachtenstil sind z. B.:

  • Zu prüfen gilt …
  • Fraglich ist …
  • Zweifelhaft ist …
  • Unter der Voraussetzung, dass …

Der Obersatz tritt ein, wenn bestimmte Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind. Entsprechend lässt sich daraus ein Anspruch formulieren, z. B. ” Dazu müsste ein rechtmäßiger Kaufvertrag vorliegen.” Nur wenn ein Anspruch nach §194 BGB gegeben ist, kann eine Partei etwas von einer anderen einfordern.

Den Obersatz formuliert man für jedes einzelne Tatbestandsmerkmal, das sich ergibt, wenn Verschachtelungen vorliegen. So ergibt sich aus o. g. Beispiel mit dem Kaufvertrag beispielsweise, dass K das Angebot angenommen hat, beide Parteien voll geschäftsfähig waren, ein Rechtsbindungswille vorlag etc. Sind alle Tatbestandsmerkmale erfüllt, ist der Anspruch gegeben.

Definitionen

In einem zweiten Punkt folgen die Definitionen der einzelnen Tatbestandsmerkmale. Die wichtigsten davon lernt man vor einer Klausur am besten auswendig oder schreibt sie aus einem Definitionsbuch heraus. Alternativ sind systematische Überlegungen wie die grammatische Auslegung des Wortes, die Stellung im Gesetz und die historische Auslegung hilfreich, um eine eigene Definition zu formulieren.

Ist die Definition umstritten, legt man die Argumente vollständig dar und begründet am Ende die Entscheidung zugunsten einer Position.

Subsumtion

Hier geht es nun darum, die Angaben im Sachverhalt mit der Definition zu vergleichen. Wichtig ist hier, jedes einzelne Merkmal der Definition zu berücksichtigen. Hilfreiche Wörter bei der Formulierung sind hier:

  • weshalb
  • deshalb
  • daher
  • somit

Konklusion

Die Konklusion ist das Ergebnis zum Obersatz. Sie beginnen für gewöhnlich mit Wörtern wie

  • dementsprechend
  • folglich
  • somit
  • schließlich
  • infolgedessen
  • schlussendlich
  • demzufolge

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Beispielhafter Fallaufbau im Gutachtenstil

A. Anspruch aus §xy BGB

z. B. Anspruch A gegen B aus § 433 II BGB

I. Anspruch entstanden

Hierfür müsste der Anspruch zunächst entstanden sein.

1 Tatbestandmerkmal

z. B. wirksamer Kaufvertrag, § 433 BGB

a) Tatbestandmerkmal zu 1

z. B. Angebot des A, § 145 BGB

Es könnte ein wirksames Angebot seitens des A vorliegen. (Obersatz)
Ein Angebot ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung, die alle vertragswesentlichen Bestandteile (essentialia negotii) enthält und durch die der Vertragsschluss einem anderen so angetragen wird, dass das Zustandekommen des Vertrages nur noch von dem Einverständnis des Empfängers abhängt; dieser das Angebot mit einem bloßen „Ja“ annehmen kann. Zudem muss ein Rechtsbindungswille erkennbar sein. (Definition) Vorliegend bietet A dem B den Verkauf des Handys für 100€ an. Sowohl der Kaufgegenstand, der Kaufpreis als auch der Vertragspartner sind als essentialia negotii bestimmt. Auch der Wille des A sich rechtlich zu binden ist somit gegeben. (Subsumtion) Folglich liegt seitens des A ein Angebot vor. (Ergebnis)

z. B. Annahme des B, § 147 BGB

B müsste das Angebot des A auch angenommen haben. (Obersatz). Eine Annahme ist die uneingeschränkte Einverständniserklärung mit dem Angebot. (Definition) B antwortet auf das Angebot des A sofort mit einem bloßen „Ja, ich will“ und nimmt das Angebot des A uneingeschränkt an. (Subsumtion) B hat das Angebot des A auch wirksam angenommen. (Ergebnis)

aa) Tatbestandmerkmal zu a

z. B. Rechtsbindungswille der Willenserklärung

bb) Ergebnis zu aa

b) Ergebnis zu a

Folglich liegt ein wirksamer Vertragsschluss nach § 433 BGB vor.

2. Ergebnis zu 1.

Der Anspruch ist somit entstanden.

II. Anspruch nicht untergegangen

Der Anspruch dürfte nicht untergegangen sein. Es sind keine Anhaltspunkte für einen Untergang des Anspruchs ersichtlich. Demnach ist der Anspruch nicht untergegangen.

III. Anspruch durchsetzbar

Der Anspruch müsste auch durchsetzbar sein. Es sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, die gegen eine Durchsetzbarkeit sprechen könnten. Der Anspruch ist somit auch durchsetzbar.

B. Gesamtergebnis

A hat gegenüber B einen Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises i.H.v. 100€ aus einem Kaufvertrag gem. § 433 II BGB.

Gutachtenstil vs. Urteilsstil

Der Urteilsstil arbeitet nicht nach diesem Schema. Er kommt daher zum Einsatz, wenn der Tatbestand offensichtlich vorliegt und beginnt mit dem Urteil, dem die Begründung folgt.